Der Fingonturm
„Wenn Du einen Turm antriffst, der schwarz ist und hoch bis in die Wolken geht, schwarz-blau schimmernd wie aus einem ganzen Stein gehauen oder gegossen, dann bleib nicht stehen, sondern renn!“ Die Hobbitkinder schauen den alten Poppy Tuk mit großen Augen an.
Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und legt die Stirn in Falten.
„Jaja, ich habe ihn selber gesehen, bei meinen Reisen durch Tusterfels. Erst ist er hier, dann ist er dort, und wer ihn je betreten hat, der bleibt für immer fort. Merkt euch diesen Reim gut, Kinder, denn dann werdet ihr es überleben, wenn ihr ihm begegnet.“
Die Hobbitkinder in Hochtal mochten diese Geschichte besonders, weil sie gar so gruselig war, und der alte Poppy Tuk es sooo schön erzählen konnte. Doch je älter die jungen Hobbitse wurden, um so weniger glaubten sie solche Tuk-Märchen, so wie sie auch nicht mehr an den weißen Jeti auf dem Nebelgipfel glaubten.
Onyxia Eisenfeuers Haupt- und Barthaare waren inzwischen ergraut. Keiner wusste, wie alt sie wirklich war, man munkelte, über 800 Jahre. Und man munkelte auch, dass sie einst im Mondwald groß wurde und die Hexen- und Druidenmagie von Feen und Kobolden dort lernte. Aber das musste schon Äonen her sein.
„Erst ist er hier, dann ist er dort, und wer ihn je betreten hat, der bleibt für immer fort“, murmelt die alte Onyxia vor sich hin, als sie in dem großen Kessel über dem offenen Feuer ihres kleinen Hauses in Eisensturz nahe der Henkergasse rührt.
„Jajajaja!“, rufen ihre 4 (Ur-, ur-, ur-, ur-... das wusste keiner so genau) Enkelkinder, die an dem massiven Eichentisch auf die jetzt schon gut duftende Suppe warten „erzähl uns vom schwarzen Turm!“
„Na gut“, seufzt Onyxia, und weil die Suppe sowieso noch eine ganze Weile köcheln muss, um ihren Geschmack wirklich zu entfalten, schenkt sie sich einen Humpen Bier ein und setzt sich zu ihren Enkelkindern.
„Damals, vor 100 Jahren, als ich noch jung war, da war ich auf dem Weg mit einem wichtigen Handelsvertrag unseres Clans nach Dämmerwald. Und auf halben Weg, als ich gerade mit meinem Eselgespann am Wegrand Pause machte, da schaute ich über die Schulter und da stand er: groß, schwarz, zwischen Nebelschwaden an einem herrlichen Sommertag.“
Staunend und mit offenem Mund hörten die Enkelkinder der Oma zu und rutschten etwas näher.
„Und stellt Euch vor, als ich näher hinschaute, sah ich sie... sie um den Turm herum schleichen. Durchschimmernd und schwebend, wie ein Geist. Ich wusste gleich, dass sie es war, von der man erzählte, dass sie verflucht war, um auf ewig dort zu bleiben bis er sie erlösen würde.“
Dampfend und zischend brodelte der Topf über und Onyxia sprang auf, um sich wieder ihrer Suppe zu widmen.
Er kam mit pochendem Herzen in die Taverne gestürzt, die sich kurz vor Epelhagen an der Hauptstraße befand.
„Sie, sie, sie, -…. Es also HILFE!“
Kalkweiß war das Gesicht des jungen Mannes, er trug die Uniform der Postboten und schien eine Tasche voller Depeschen dabei zu haben. Seiner Reiterkleidung nach war er ein reitender Bote.
„Was ist mit euch?“, fragte die junge Schankmaid und kam hinter dem Thresen vorgestürzt und wusch sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie erreichte den jungen Kerl gerade noch rechtzeitig, um seinen Sturz abzufangen als er auch schon vor ihren Füßen zusammensank.
„Der Turm!“, stieß er noch hervor, bevor er bewusstlos wurde.
Die Taverne war halb gefüllt, jetzt zur Zeit des zweiten Frühstücks, und alle schauten die Szene mit einer Mischung aus Neugier, Bestürzung und Entsetzen an.
„So helft mir doch!“ Die Worte der Schankmaid löste die Erstarrung der Gäste, und während an einigen Tischen sofort eine heftige Debatte über den Vorfall ausbrach und andere sich über ihre Suppe beugten, stand aus einem Eck ein langer, hagerer Mann mit einer Elfenstatur auf und kramte in seinen tiefen Manteltaschen. Die Kapuze hatte er tief in sein Gesicht gezogen, so dass es gänzlich im Schatten lag.
Er entnahm seinem Mantel ein Döschen und bestäubte den jungen Mann mit einem Puder.
„Grüßt sie von Telarion, wenn ihr sie das nächste Mal seht“ sagte der Fremde noch zu dem auf einmal wieder hellwachen jungen Mann und verschwand dann vor den erstaunten Augen der anwesenden Gäste.
Nun war es in der Taverne wieder still geworden.
Nur einer hauchte die Worte in die Stille: „Der Turm, er ist wieder da.“
Und noch 10 weitere Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, hätte man im Schankraum eine Stecknadel fallen hören können.
Die Schankmaid half dem jungen Postboten auf und geleitete ihn an den Tresen, wo sie sich und ihm erst einmal auf Kosten des Hauses ein kräftiges Zwergendunkelbier einschenkte.
„Der Turm“, sagten die beiden nur, schauten sich an, und nahmen dann einen kräftigen Schluck.
Und folgende wissenschaftliche Abhandlung findet sich in der Bibliothek über den Fingonturm:
Der Fingonturm ist nach seiner Bewohnerin benannt.
Fingon war eine hochstrebende und mächtige Elfenmagierin, eine der Mitbegründerinnen der Aerandir Celebrindal. Als sie die Akademie mit einigen Elfengeschwistern gründete, war sie bereits hoch betagt und in ihren Studien unerreicht.
Doch ihre Seele war nicht rein wie die einer Hochelfe sein sollte.
Sie experimentierte mit Blutmagie und wurde deswegen von ihren Geschwistern aus dem ersten Rat der Akademie hinaus geworfen.
Doch sie wollte, dass ihre Erkenntnisse erhalten bleiben, über ihren Tod hinaus. Auch sich selbst wollte sie nicht dem Tod und der Anderswelt überantworten, sondern unsterblich werden. So sagt es die Legende.
So beschloss sie vor Urzeiten ihre Seele an den Dämonen, der Telarion genannt wird, zu verkaufen. Sie wollte einen einmaligen Magierturm, Unsterblichkeit und die Möglichkeit für grenzenlose Forschung. Der Turm sollte bis in die Wolken reichen und aus einem Stück sein. Schwarz wie die Nacht sollte er sein, als Gegenstück zu ihren weißen Haaren und den weißen Gewändern, die sie zu tragen pflegte. Ihr Ruf sollte in ganz Tusterfels bekannt sein und nicht sterben.
Telarion dagegen wollte eine sterbliche Hülle, aber nicht irgendeine, sondern die schönste und strahlenste, die eines Elfen natürlich.
So lockte Fingon ihren schönsten Schüler zu sich und überantwortete ihn dem Dämonen, der das Opfer gerne annahm.
Und er hielt sein Versprechen: Er erschuf den schwarzen Turm, der immer von Nebelschwaden umgeben ist, als stünde er zwischen den Wolken.
Er band die Seele der Elfe an diesen Turm, dazu verdammt, nicht weiter als 5 Schritte von ihm weg zu können.
Als die Elfe starb, war es ihr Geist, der weiter durch den Turm spukte.
Durch ganz Tusterfels wandert dieser Turm seither und erschreckt die, denen er begegnet.
Schon viele mutige, oder auch einfältige, Recken haben versucht, an das unendliche Wissen, das der Turm inzwischen beherbergen muss, heran zu kommen, oder aus edleren Motiven, die Elfe zu befreien.
Doch - so sagt es ein alter Kinderreim - bisher ist noch keiner zurück gekommen, der den Turm betrat.
Bis heute taucht der Turm immer wieder an verschiedenen Orten innerhalb Tusterfels‘ auf. Und es heißt, wo sie mit ihrem Turm auftaucht, da ist ER nicht weit...“
Gelmir Calmcacil
Historiker an der Akademie Aerandir Celebrindal